Der „grote Jann“

von B. Feldmann, Pfarrer und Kreisschulinspektor (1843-1917)

In alter Zeit lebte in dem damals noch von jedem Verkehr abgeschnittenen Orte Kirchhellen ein einsamer Mann, den man allgemein nur den groten Jann nannte. Dieser hatte, wie uns die Sage berichtet, getrieben von unersättlicher Habgier, heimlich einen Grenzstein versetzt und sich so an fremdem Gut bereichert. Doch die Strafe für seine Freveltat blieb nicht aus. Schon zu Lebzeiten wegen seines unstäten, zerfahrenen Wesens von den Leuten gemieden, fand er auch nach dem Tode im Grabe keine Ruhe. Sobald sich die Schatten der Nacht herniedersenken, muss er der dunklen Gruft entsteigen und in unheimlicher Schreckgestalt durch die weite Heide irren. Augen hat er so groß wie Wagenräder, und auf dem Kopfe trägt er einen schweren, schweren Mühlstein.
Niedergebeugt von der ungeheuren Last, lässt er zum Entsetzen des vorübergehenden Wanderers mit Mark und Bein durchdringender Grabesstimme den schauerlichen Klageruf ertönen: „Juhuh! Wor sack’n loten, wor sack’n loten? Juhuh!“ Einmal ist er sogar bis zum Fronhof gekommen, wo man ihn unter der Kellertreppe liegend gefunden hat. In ihrer Not baten die erschrockenen Leute die Patres von Dorsten, das Gespenst wegzubannen. Diese kamen denn auch und bannten den groten Jann wieder in die Hohe Heide hinein. Als sie ihn noch weiter wegbannen wollten, sind die Spinnen gekommen und haben ihnen den Mund zugewoben. So muss denn nun der Unglückliche alltäglich wieder seine mühevolle Wanderung antreten, und nicht eher wird ihm Erlösung, bis er den Stein an die rechte Stelle zurückgebracht hat, welchem Ziele er, wie es heißt, jedes Jahre um einen Hahnenschrei näherkommen soll. — Diese heimische Sage habe ich vor mehr als dreißig Jahren in folgende Verse gebracht.

Wenn’s Dunkel die einsame Heide
Umhüllet mit düsterem Kleide,
Entsteigt am verrufenen Ort,
Wo jegliches Leben verdorrt,
Dem Grabe ein Mann, dessen Gier
Den Grenzstein verrückt im Revier.

Groß ist er wie Riesen der Sage
Und trägt auf dem Haupte zur Plage
Des Marksteines wuchtige Last.
Er jagt ohne Ruhe und Rast
Durch’s Heideland, öde und leer,
In endlosen Kreisen umher.

Verfolgt von den Geistern der Hölle,
Sucht angstvoll er nun nach der Stelle,
Wo anfängt das unrecht Gut.
Doch wehe dem Armen! Es ruht
Der Fluch stets auf all seiner Müh’,
Er findet die Grenzscheide nie.

Drum ächtzt er und seufzet und stöhnet
Wie Sturm, der die Föhren durchtönet,
Und schreiet: „Der Stein ist so schwer!”’
So irrt er allnächtlich umher,
Bis morgens in’s finstere Grab
Der Lichtscheue fliehet hinab.

aus: Gladbecker Blätter 1916, S. 96