Der Grote Jann

Eine vestische Sage; bearbeitet v. Heinz Mayer, Mengede

Im Orte Kirchhellen stand in jener Zeit ein Haus, darin ein einsamer Mann wohnte. Um das Haus und seinen Bewohner gingen schon zu seinen Lebzeiten seltsame Gerüchte. Wenn abends die Knechte und Mägde beim flackernden Schein des Kaminfeuers saßen, kam wohl die Rede auf den groten Jann und sein geheimnisvolles Wesen. Dann rückten die Mägde in unerklärlicher Angst eng zusammen, und ein eisiger Schauer lief ihnen über den Rücken bis in die Fußspitzen.

Man hatte schon lange über seinen unstäten Lebenswandel gemunkelt, und von den Leuten wurde er ob seines Aussehens gemieden bis plötzlich seine Frau und sein achtjähriges Töchterlein auf unerklärliche Weise starben. Damals erzählte der kleine Sohn des Sauhirten, der des öfteren vom Vater zum Jann geschickt wurde, allerlei dunkle Geschichten, die er in dem einsamen Haus am Föhrried mit eigenen Augen gesehen haben wollte. Der grote Jann sei das Gespenst des Geizes und der Habgier selber, und mit rot geränderten Augen habe er oft seine Frau, von Hunger gepeinigt, auf den Knien vor ihm liegen sehen, und geweint habe sie, dass es einen Stein erweichen möge. Mitleidige Nachbarn pflegten dann oft dem armen Weibe und ihrem kranken Wurm milde Gaben vor die Tür zu legen und ein Vaterunser für sie zu beten. In dem Hause selbst sei eine wüste Unordnung gewesen, zwei große Katzen seien umhergesprungen und haben Mäuse vertilgt, die in Scharen in den Schränken und Schubladen gehaust, und auf einer armseligen Matratze hätten die Frau des Jann und sein Kind in Lumpen gelegen, während er selber oben in einer Kammer rumort und geflucht, bis man eines Tages die beiden verscharrt.

Zur selben Stunde sei der grote Jann ins Torfmoor gegangen und erst in der tiefen Nacht zurückgekommen. Seit jener Zeit bekamen ihn die Leute nur äußerst selten zu Gesicht, das Haus habe er stets sorgfältig verriegelt, und was er darin trieb, wusste man nicht. Natürlich bemächtigte sich die Sage seiner, und bald waren die abenteuerlichsten Spukgeschichten im Umlauf. Wanderer, die zufällig des Nachts am Föhrried vorüberkamen, sahen hinter den Fenstern ein blasses Licht brennen und hörten auch wohl ein Klirren wie von Ketten aus dem Hause. Dann ging man jedoch eilig weiter.

Der grote Jann war von robuster Gestalt, hatte einen breiten Rücken, wie ein Höcker, trug schwere Stulpstiefel und ein grünes Wams mit Silberknöpfen und hatte Augen von einer wasserhellen Farbe. Das eigentümliche an ihm war sein Blick: zerfahren schweifte er in die Ferne, als müsste er dort etwas suchen. Jann lebte von seinem Acker und flößte oft glatte Kiefernstämme die Lippe hinunter, die er zu den reichen Holzhändlern an der Grenze brachte, wobei er oft tagelang ausblieb. Mit zunehmendem Alter wurde seine unersättliche Habgier grenzenlos. Sein Blick wurde irre, wenn er blanke Taler zählte. Schon lange hatte er seine gierigen Augen auf den schönen Weidbruch geworfen, der zum Gelände seines Nachbarn gehörte. Tag und Nacht sann er, und der stete Gedanke machte ihn fast wahnsinnig, bis er einmal in einer windstillen Nacht an jener Stelle aufgetaucht war und mit langen Schritten die Grenze abgemessen hatte. In der nächsten Nacht ergriff er Spaten und Hacke, um seine schwarze Tat auszuführen.

Das fahle Mondlicht lag auf den Wegen, im sumpfigen Moor gurgelte es, und die Fichten warfen gespenstige Schatten. Nur eine Rohrdommel schlug traurig — sonst war es totenstill. Nahe am Hofe des Bauern fuhr plötzlich wütendes Gekläff auf ihn los, zwei glühende Augen und — Krach schlug er mit der Spitzhacke zu. Dann war es wieder ruhig. Im Hause habe man nichts gehört, und bald war er an dem Grenzstein. Schnell die Hacke, den Spaten, und bald konnte er den Stein herausheben; der Schweiß troff. Mit unsäglicher Mühe schleppte er ihn um 100 Meter zurück, und flugs ein Loch gegraben und den Stein wieder hinein. Wie zitterten seine Hände und brannten seine Augen!

Am nächsten Morgen fanden die Knechte den Hund in seinem Blute und niemand konnte sich etwas erklären, Von nun an sahen oft die Bauern in ihren Gehölzen die besten Stämme gefällt und verschwunden, und da nur ein baumstarker Mann sie geschlagen haben konnte, ahnte man wohl den Täter, aber die Furcht vor dem unheimlichen Mann ließ sie schweigen. So wurde der grote Jann bald zum Schreckgespenst der Gegend; was er haben wollte, holte er sich.

Dann hörte man lange Zeit nichts mehr von ihm, und eines Tages fanden ihn die Holzfäller an einer entlegenen Stelle des Waldes mit einer Wunde mitten auf der Stirn im Moose liegen. Er war tot. Als später einige beherzte Männer sein Haus betraten, fanden sie nichts an Schätzen darin. Seine Truhen standen weit geöffnet und waren leer. Was mit seinem Gelde geschehen ist, hat man nie erfahren. Die Gegenstände befanden sich in einem entsetzlich verwahrlosten Zustande, und auf einem Kehrichthaufen lagen die halb verwesten Leichname der beiden Katzen. Er hatte sie verhungern lassen. So weit ging sein Geiz.

Nach seinem Tode aber geschah etwas Entsetzliches. Eines Tages kam der erwachsene Sohn eines Kleinbauern totenbleich ins Dorf gelaufen und sagte, er habe den groten Jann gesehen. Nicht weit von einem kleinen Tümpel habe er in einer menschenleeren Gegend auf einem Stein gesessen und in einem fort gestöhnt, dass es ihm kalt den Rücken heruntergelaufen wäre. Nicht lange nach dieser Begegnung wurde der Junge zum Sterben krank, und bald konnte man ihn zum Friedhof bringen. Der grote Jann aber irrte weiter in der Heide umher. Sobald sich die Schatten der Nacht herniedersenken, muss er der dunklen Gruft entsteigen und als unheimliche Schreckgestalt ohne Rast und Ruh’ die Orte seiner Schandtaten aufsuchen. Dann lässt er seine Augen, die so groß sind wie Wagenräder, in die Ferne schweifen, und qualvolles Stöhnen entringt sich seiner Brust. Und so sieht ihn wohl der Wanderer mit einem schweren Mühlstein auf seinem Kopfe durch den Ginster wanken und hört voll Entsetzen seinen Mark und Bein durchdringenden Klageruf „Juhu! wor sack’n loten, wor sack’n loten? Juhu!“ Lässt er sich jedoch von Mitleid überwältigt, verleiten, ihm nachzugehen, dann ist es um ihn geschehen. Einmal, wie die Sonne ungewöhnlich heiß auf den Strohdächern brannte, ist er sogar bis zum Frohnhof gekommen, wo man ihn unter der Kellertreppe liegend aufgefunden hat. Da hub ein großes Wehklagen an, und in ihrer Not liefen die Leute zu den Patres von Dorsten und baten sie, das Gespenst wegzubannen. Diese hielten ihm das Kreuz vor und bannten den groten Jann wieder in die hohe Heide hinein. Weiter und weiter verfolgten sie ihn, aber in der wilden Gegend kamen plötzlich große Spinnen, die haben ihnen den Mund zugewoben.

Der Unselige aber muss alltäglich wieder seine qualvolle Wanderung antreten. Tag und Nacht versucht er mit unsäglicher Mühe, den Grenzstein wieder an die rechte Stelle zurückzubringen, und jedes Jahr soll er seinem Ziele um einen Hahnenschrei näher kommen. Wird er in ferner, ferner Zeit sein Werk vollbracht haben, dann schlägt auch für ihn die Stunde der Erlösung.

aus: Gladbecker Blätter 1928